Die Darstellung des Bürgertums in der Portraitfotografie
Die schnelle und massenhafte Verbreitung der Portraitfotografie steht in enger Beziehung mit dem aufkommenden Bürgertum, namentlich zur politischen, sozialen und kulturellen Rolle des Kleinbürgertums im 19. Jahrhundert. Haberkorn stellt als Ursachen für diese Verbreitung drei grundlegende Faktoren heraus:
- der ungeahnte wirtschaftliche Aufschwung ab dem sechsten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts;
- die Verbilligung des fotografischen Verfahrens, das umständliche Nassplattenverfahren wird ersetzt durch die Verbreitung des Negativ-Positiv-Verfahrens;
- die stilistische Anpassung an das Repräsentationsbedürfnis des aufsteigenden Bürgertums.29
Besonders in Frankreich führte das autoritäre Regime Napoleons III. ab 1852 zu einem Wendepunkt in der sozialen und ökonomischen Entwicklung.
Unter dem neuen Kaiser, der sich berufen fühlte, die bürgerliche Ordnung sicherzustellen, entstand eine erste sogenannte Gründerepoche.
Eisenbahnkonzessionen werden verliehen und damit das Verkehrswesen ausgebaut, Subventionen gegeben, der Kredit wird organisiert, überall entwickeln sich neue Unternehmungen. In den fünfziger Jahren entstehen die ersten Pariser Warenhäuser „Bon Marché“, „Louvre“ und „Belle Jardiniére“ und insbesondere in den Metropolen unzählige Neubauten, Befestigungsanlagen und Boulevards, die als repräsentative Prachtstraßen gedacht waren. Große Markthallen mit eindrucksvoller, gußeiserner Konstruktion, Kanäle, Häfen, Straßen und Eisenbahnen werden im Zuge eines staatlichen Programms zur Arbeitsbeschaffung errichtet.30
Von dieser Phase der Prosperität profitieren freilich am wenigsten die Arbeiter.
»Ihre Situation war durch den 12-Stunden-Arbeitstag, das Streikverbot und bis 1864 durch das Verbot der Bildung von Arbeitskoalitionen bestimmt.«31
Vielmehr war es das Bürgertum, das von den Auswirkungen dieser Politik profitierte. Die durch die moderne Gesellschaft notwendig gewordene staatliche Zentralisierung ließ in Frankreich einen gewaltigen Beamtenapparat entstehen, der zudem eine gesicherte Position einnahm.
Der mit der neuen Bürokratie installierte, breit ausgebaute und straff organisierte Polizeiapparat stützte das autoritäre Regime und verlieh den kleinen Beamten und Angestellten, den selbständigen Ladeninhabern und Kleinunternehmern das Bewusstsein politischer Bedeutsamkeit.
Haberkorn sieht in den Werten wie Sparsamkeit, Einfachheit, Redlichkeit, Frömmigkeit, Zurückhaltung, Ordentlichkeit und Prüderie die zu jener Zeit typischen kleinbürgerlichen Eigenschaften. Die in den Städten praktizierte Lebensart war gleichsam Orientierung für das gesamte gesellschaftliche Leben. Häusliches Familienleben wurde kultiviert und ein gewisser Komfort sollte das Alltagsleben angenehmer gestalten. Elegante Möbel, Tapeten und kostbares Porzellan wurden als bürgerliche Statussymbole in die Portraitfotografie häufig eingebunden.
Der Besuchersalon galt als Prunkstück jedes wohlhabenden Haushalts und wurde eklektisch mit solchen Gegenständen ausstaffiert, die kostbar, dekorativ und kulturträchtig wirkten.
»Gesellschaftliches Elend, das vorhanden war, wurde in bürgerlichen Kreisen schamhaft verschwiegen, scheinheilig lebte man in einer durch Leistung und Lebensstil geschaffenen Art von gutem Gewissen. Man wandte den Blick von der Hässlichkeit des niederen Alltags ab und ergötzte sich am Klang laut verkündeter Werte.«32
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