Repräsentation in der kommerziellen Portraitfotografie und deren Auraverfall
Die anspruchsvolle Portraitfotografie, der sich die ersten Künstlerfotografen verbunden fühlten, wurde schon bald verdrängt von einer dem Geschmack des aufsteigenden Bürgertums nachkommenden kommerziellen Portraitfotografie, in der es nicht selten um bloße Repräsentation ging. Freund charakterisiert diese Phase als zweite Stilepoche der Fotografie. Indem zum einen das photographische Verfahren einfacher und damit billiger wurde, zum anderen die Geschmacksvorstellungen eines größeren Abnehmerkreises sich durchsetzen, wurde es seiner Exklusivität enthoben. Benjamin spricht von einem jäh einsetzenden Verfall des Geschmacks. Von überall her drangen nun Geschäftsleute in den Stand der Berufsfotografen ein, und schlechte Maler rächten sich, so Benjamin, mittels üblich werdender Negativretusche an der Fotografie.40
»Das war die Zeit, da die Fotografiealben sich zu füllen begannen. An den frostigen Stellen der Wohnung, auf Konsolen oder Gueridons im Besucherzimmer, fanden sie sich am liebsten: Lederschwarten mit abstoßenden Metallbeschlägen und den fingerdicken goldumrandeten Blättern, auf denen närrisch drapierte oder verschnürte Figuren – Onkel Alex und Tante Riekchen, Trudchen wie sie noch klein war, Papa im ersten Semester – verteilt waren und endlich, um die Schande voll zu machen, wir selbst: als Salontiroler, jodelnd, den Hut gegen gepinselte Firnen schwingend, oder als adretter Matrose, Standbein und Spielbein, wie es sich gehört, gegen einen polierten Pfosten gelehnt.«41
Die Repräsentation gesellschaftlicher Bedeutsamkeit in repräsentativer Form vornehmen zu können, lässt unzählige Portraits mit typischen Bildrequisiten entstehen. Weite Verbreitung als Bildnisstaffage finden Tischchen mit Blumenarrangement, geraffter Vorhang, Postamente und Balustraden, geschnitzte und gepolsterte Stühle, Teppich und Säule, aber auch Landschaftskulissen.42
Freilich, nicht nur skurril anmutende Surrogate laden die Umgebung mit Bedeutung auf. Viele Ateliers verfügen ebenso über ein umfangreiches Arsenal an Kostümen, die es dem nach Reputation heischenden Bürger gestatten, in jede von ihm gewünschte Rolle zu schlüpfen.
»Das Atelier des Fotografen wird zur Requisitenkammer eines Theaters, in dem für alle beruflichen Rollen die passenden Charaktermasken bereitgestellt sind.«43
Zu den Einrichtungsgegenständen der Ateliers gehören jedoch nicht nur symbolische Requisiten, die den Personen eine möglichst würdige, leicht verständliche Charakteristik verleihen sollen. Auch der Poseapparat gehört zum üblichen Ateliersinventar. Mit seiner Hilfe soll das Modell nicht nur am »Verwackeln« gehindert, sondern auch in eine als schön geltende Haltung gezwängt werden.
Freund vergleicht diesen Mechanismus mit einer Art Operationsstuhl44 und Neumann sieht den Porträtierten gar als „Patient“ und den Fotografen als »Operateur«.
»Der Wunsch nach fernen Zielen wird als Pose entlastet. Indem das Wollen an den, der will, gebunden bleiben kann und Aufnahme in einem ihm gefälligen Bild findet, gewinnt es Geltung, Prestige. Sich so einzurichten, dass man seiner selbst gewiss bleibt und dennoch über sich hinaus in den erwünschten Zustand besserer Verhältnisse tritt, wobei das bessere nur noch lose mit konkreten Vorstellungen aus der Vergangenheit verbunden ist, von da nur Ziele, aber keine Formen der Verwirklichung bezieht, dem dient die Fotografie exakt.«45
In dem Maße wie die authentische Individualität in dem Portrait verschwand, nahm die Betonung der gesellschaftlichen Position des Dargestellten zu. Vielfach wurde den Aufnehmen ein gemäldeartiger Charakter einverleibt.46
Adorno sieht in den frühen Portraitfotografie den Lebensprozess zu einem Ausdruck des Immergleichen erstarrt. Auf den Betrachter übten deshalb die Fotografien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts einen Schock aus. Der Widersinn explodiere, so Adorno, weil dort etwas geschehe, wo das Phänomen bereits sage, dass nichts mehr geschehen könne, sein Habitus werde schauerlich.47
Die endgültige »Demokratisierung« des Portraits hatte zur Folge, dass nicht mehr nur eine kleine wohlhabende Schicht, sondern gleichermaßen Künstler, Gelehrte, Staatsmänner, Beamte, Angestellte, Bankbesitzer, Kaufleute, Händler etc. am Objektiv »vorbeidefilierten«. Die Kamera stellte Gleichheit her, sie hob, wie es schien, die Klassenunterschiede innerhalb der verschiedenen Schichten des Bürgertums auf.48
»Besser noch rief mir jetzt die vollkommen äußere Gleichheit zwischen einem Kleinbürger aus Combray derselben Altersklasse und dem Herzog von Bouillon in die Erinnerung zurück, dass die gesellschaftlichen oder auch individuellen Unterschiede in der Uniformierung einer Epoche verschwinden.«49
Und Adorno, der auf diese Äußerung Bezug nimmt, sieht in der vermeintlichen Auflösung von Klassenunterschieden noch einen anderen, übergreifenden Aspekt:
»Die Beobachtung Prousts, dass die Fotografien der Großväter, eines Herzogs und eines Juden aus dem Mittelstand einander so ähnlich sehen, dass keiner mehr an die soziale Rangordnung denkt, trifft einen weit umfassenderen Sachverhalt: objektiv verschwinden hinter der Einheit der Epoche alle jene Differenzen, die das Glück, ja die moralische Substanz der individuellen Existenz ausmachen.«50
Neumann vermutet, dass die Überlieferung getreuer Wirklichkeitsbilder einer längst toten Vergangenheit auf den Betrachter zwar einen magischen Reiz ausübt, vergleichbar etwa mit einem Archäologen, der fremde, vergangene Kulturen untersucht. Gleichwohl manifestieren sich für ihn im Portrait häufiger die Züge eines unbekannten Menschen, deren Anordnung zu einem Gedächtnisbild einem Betrachter mit anderem Wertsystem allerdings schwerfallen dürfte.
Es ist weniger die Persönlichkeit, so Neumann, die sich aus einem Portrait erschließt, als vielmehr die Gesellschaft, die sich aus ihm rekonstruieren lässt.51
Kracauer, der in der Fotografie Gedächtnisbilder sieht, die ein gegebenes zeitliches oder räumliches Kontinuum erfassen, knüpft deren Bedeutung an ihren Wahrheitsgehalt. Solange diese in »unkontrolliertes Triebleben eingebunden sind« unterliegen sie einer rätselhaften Zweideutigkeit.
Erst wenn die Erkenntnis größer und der Naturzwang begrenzt wird, erhöht sich die Transparenz der Gedächtnisbilder. Nur das freigesetzte Bewusstsein ist imstande, Wahrheit zu finden. Dasjenige Bild, welches sich dieser Transparenz nähert und Gehalte aufweist, die das als wahr erkannte betreffen, charakterisiert Kracauer als das letzte Bild, in dem sich die Züge der Geschichte zusammenschließen.52
»Das letzte Bild eines Menschen ist seine eigentliche Geschichte. Aus ihr fallen alle Merkmale und Bestimmungen aus, die sich nicht in einem bedeutenden Sinne zu der von dem freigesetzten Bewusstsein gemeinten Wahrheit verhalten. Wie sie von einem Menschen dargestellt wird, hängt weder rein von seiner Naturbeschaffenheit noch von dem Scheinzusammenhang seiner Individualität ab; also gehen nur Bruchstücke dieser Bestände in seine Geschichte ein. Sie gleicht einem Monogramm, das den Namen zu einem Linienzug verdichtet, der als Ornament Bedeutung hat… Unter der Fotografie eines Menschen ist seine Geschichte wie unter einer Schneedecke vergraben.«53
Jene Fotografie, die nicht die Erkenntnis des Originals veranschaulicht, stellt lediglich die räumliche Konfiguration eines Augenblicks dar. Es ist nicht der Mensch in seiner Authentizität, der in der Fotografie herausgestellt wird, sondern »die Summe dessen, was von ihm abzuziehen ist«.54 Seine Persönlichkeit wird gleichsam aufgelöst im Augenblick seiner Abbildung. Geboten wird nicht das Vorhandene, sondern das Vorgestellte, die Pose, nicht die Wirklichkeit, sondern vorgetäuschte Wirklichkeit.
»Die Fotografie ist wesentlich eine naive Zuwendung zur entfremdeten Wirklichkeit.«55
Eine sich solchermaßen abzeichnende Krise der künstlerischen Wiedergabe wird von Benjamin als integraler Teil einer Krise der Wahrnehmung selbst gewertet. Mit dieser Wahrnehmung kündigt sich gleichzeitig der Verfall der Aura an.
»Die Entschälung des Gegenstandes aus seiner Hülle, die Zertrümmerung der Aura ist die Signatur einer Wahrnehmung, deren Sinn für alles Gleichartige auf der Welt so gewachsen ist, dass sie es mittels der Reproduktion auch dem Einmaligen abgewinnt.«56
Die Verkümmerung der Aura, die Liquidierung des Hier und Jetzt des Originals, ist für Benjamin eine symptomatische Erscheinung im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit, eine Erscheinung, die über den Bereich der Kunst hinausweist.
War die Einzigartigkeit des Kunstwerks identisch mit seinem Eingebettetsein in den Zusammenhang der Tradition, so wird das Reproduzierte durch die Reproduktionstechnik aus dem Bereich der Tradition abgelöst. Indem das Kunstwerk – und Benjamin zählt die frühe Portraitfotografie dazu – vervielfältigt wird, setzt die Reproduktion an die Stelle des einmaligen Vorkommens ein massenweises. Andererseits ist die Reproduktionstechnik in der Lage, das Reproduzierte zu aktualisieren, da sie dem Aufzunehmenden in seiner jeweiligen Situation entgegenkommen kann.
In diesen beiden Vorgängen sieht Benjamin eine Erschütterung der Tradition, die sich besonders im Film bemerkbar macht. Die gesellschaftliche Bedeutung des Films ist deshalb auch in ihrer positivsten Gestalt nicht ohne diese destruktive Seite denkbar.
»Und wenn Abel Gance 1927 enthusiastisch ausrief: ›Shakespeare, Rembrandt, Beethoven werden filmen… Alle Legenden, alle Mythologien und alle Mythen, alle Religionsstifter, ja alle Religionen… warten auf ihre belichtete Auferstehung‹ so hat er, ohne es wohl zu meinen, zu einer umfassenden Liquidation eingeladen.«57
So schreibt Benjamin gerade der Fotografie entscheidenden Anteil am Auraverfall zu. Indem der Fotograf in der kommerziellen Portraitfotografie nachahmt, was allgemein akzeptiert ist und die ästhetischen Wertungen der Masse und damit die herrschende Kunstauffassung auf den Bereich der Fotografie58 überträgt – dies gilt besonders für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts – verkommt diese zum »profanen Schönheitsdienst«.59
»Einst bewundert um ihrer Fähigkeit willen, Wirklichkeit getreu wiederzugeben, und zunächst verachtet wegen ihrer ›unwürdigen Genauigkeit‹ (so Rodin), hat die Kamera zu einer ungeheuren Aufwertung des äußeren Scheins geführt. Des äußeren Scheins, wie ihn die Kamera protokolliert. Fotografien vermitteln nicht einfach – auf eine realistische Weise – Realität. Die Realität wird vielmehr danach befragt und bewertet, inwieweit sie der Fotografie entspricht.«60
In der Tat war das wohl auffallendste Merkmal der von Disdéri, einem der erfolgreichsten Geschäftsfotografen des 19. Jahrhunderts, angefertigten Bilder des Fehlen jeglicher Individualität. Wie zuvor schon beschrieben, ging es in erster Linie darum, Reputation, Wohlstand, Würde und Position darzustellen. Bloch deutet diesen falschen Schein kurz an, wenn er schreibt:
»Nun kann keiner aus seiner Haut heraus. Aber leicht in eine neue hinein, daher eben ist alles Herrichten Ankleiden… Der Wunsch sich vielfach zu versuchen, beginnt aber auch bei den meisten übrigen Menschen mit dem ebenso makellosen wie variablen Schein, den ein Schneider spenden kann… Andere fühlen sich sofort ohne Falte, wenn die Hose keine wirft.«61
Dass es der Portraitfotografie nicht um die Auseinandersetzung mit der Persönlichkeit, deren Ausstrahlung und Charakter ging, zeigen die einst von Disdéri zusammengefassten Kriterien:
- Angenehmes Äußeres
- Sauberer Gesamteindruck
- Schatten, Halbtöne und Helligkeit gut herausheben
- Natürliche Proportionen
- Einzelheiten in den Schatten
- Schönheit62
Das Bemühen, die Fotografie an den ästhetischen Konzeptionen der Malerei auszurichten, zeigt, so Gisèle Freund, wie sehr man in jener Zeit am Wesen der Fotografie vorbeigegangen ist. Mit Disdéri hat sich die Fotografie von ihrer ersten bedeutenden Phase, der Künstlerfotografie, zur kommerziellen Anwendung und Verwertbarkeit entwickelt.
Und Benjamin habt noch einen anderen, der Fotografie innewohnenden Aspekt heraus, der die Qualität des Bildes entscheidend verändert hat:
»Was an der Daguerreotypie als das Unmenschliche, man könnte sagen Tödliche musste empfunden werden, war das (übrigens anhaltende) Hereinblicken in den Apparat, da doch der Apparat das Bild des Menschen aufnimmt, ohne ihm dessen Blick zurückzugeben. Dem Blick wohnt aber die Erwartung inne, von dem erwidert zu werden, dem er sich schenkt. Wo diese Erwartung erwidert wird, … da fällt ihm die Erfahrung der Aura in ihrer Fülle zu.«63
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