Bildgestaltung und Frontalitätsprinzip
Das den Porträtaufnahmen häufig zugrundegelegte Prinzip der Bildgestaltung ist die Frontalität. Dieses Prinzip sieht Bourdieu mit tiefverwurzelten kulturellen Werten verknüpft. Man tritt der Kamera eben in der gleichen Weise gegenüber wie einem Menschen, den man respektiert und dessen Achtung man erwartet: in der Regel von vorn, mit geradeaus gerichtetem Blick und erhobenem Kopf. Das ehrenhafte und würdige Bild, das der Aufgenommene von sich selbst gegenüber der Kamera zu vermitteln sucht, entspricht ganz den Erwartungen einer Gesellschaft, in der Würde, Anstand und Ehre besonders hoch geschätzt werden. In der unnatürlichen und starren Pose scheint diese Absicht unbewusst sich zu verwirklichen.
Die abgebildete Person, die sich dem Betrachter in konventionell geregelter Höflichkeit von vorn zeigt und mit Abstand betrachtet zu werden wünscht, verlangt ebenso von diesem, dass er denselben Konventionen und Normen folgt. Im Anspruch auf gegenseitige Ehrerbietung sieht Bourdieu das Wesen der Frontalität begründet.
Wenn das Fotografiertwerden bei den meisten Menschen Unbehagen auslöst, so deshalb, weil im Porträt gleichsam das Selbstbild sich vergegenständlicht, »die Grenze der Beziehung zur Außenwelt« gezogen wird und die abgebildete Person gehalten ist, das Bild zu verinnerlichen, das die Gruppenmitglieder sich von ihm machen.
Bourdieu nennt als Beispiel einen Bauern der dörflichen Gemeinschaft, der sich in solchen Aufnahmesituationen besonders unbeholfen verhält, die von ihm verlangen, aus sich herauszugehen und seinen Körper zur Schau zu stellen.
In der strengen Beachtung des Frontalitätsprinzips scheint denn auch die Kontrolle über die Objektivierung des eigenen Bildes gewährleistet zu sein.
Durch die axiale und dem Frontalitätsprinzip folgende Komposition in der Bildgestaltung wird, Bourdieu zufolge, ein deutlich lesbarer Eindruck erzeugt, der auch unter Preisgabe der »Natürlichkeit« Missverständnissen vorbeugt. Wer, durch den Sucher blickend, einen anderen ansieht, ohne selbst gesehen zu werden und überdies ohne als Beobachter gesehen zu werden, wem es also möglich ist, den anderen gleichsam verstohlen anzuschauen und den Zeitpunkt der Belichtung bestimmen zu können, der ›raubt‹ ihm das Selbstbild.82
Gleichwohl nimmt der Betrachtete dem Betrachter gegenüber die Haltung ein, in der er wahrgenommen werden will.
»Er liefert dem anderen ein gestelltes, d.h. ein vorab definiertes Bild von sich selbst. Dem Respekt vor der Etikette vergleichbar, ist die Frontalität ein Mittel, die eigene Objektivierung selbst zu betreiben. Ein geregeltes Bild von sich zu vermitteln ist eine Möglichkeit, die Regeln der Selbstwahrnehmung draußen durchzusetzen.«83
Deutlich wird die Haltung insbesondere in den meisten Gruppenfotos. Häufig stehen die Personen dicht nebeneinandergedrängt und stets in der Bildmitte. Zum Zeichen innerer Verbundenheit werden nicht selten die Arme auf die Schultern der Nachbarn gelegt.84 Die Blicke weisen stets in der gleichen Manier in das Objektiv, so, als ob dort das Zentrum sich befindet.
Werden Paare fotografiert, so dokumentiert such auch hier die gänzlich konventionelle Pose, indem sich die Partner gegenseitig bei der Taille halten. Die geordnete Aufstellung der Abgebildeten, die würdevolle Haltung und stets gleiche Blickrichtung bezwecken vor allem dies: die gelungene Integration des Gruppenmitglieds und den Zusammenhalt der Gruppe der Außenwelt gegenüber darzustellen.
Bourdieu bemerkt in diesem Zusammenhang, dass sich das Gefühl der Zusammengehörigkeit dann auffällig äußert, wenn verschiedenen Befragten Fotos vorgelegt werden, die eine Familie darstellen. Von fast allen Befragten werden Aufnahmen bevorzugt, auf denen die Personen aufrecht, unbewegt, als Gruppe angeordnet sind und zudem eine würdevolle und ›feste‹ Haltung einnehmen.
»Ein Bild, auf dem die einzelnen Familienmitglieder ohne inneren Konnex miteinander erscheinen, finden keinen Gefallen: Es wird als Zeugnis des schwachen Zusammenhaltes der Familiengruppe gelesen.«85
Von Aufnahmen, die unbekannte Personen darstellen, wird zumindest erwartet, dass die soziale Rolle sichtbar wird.
»Bei ›persönlichen Photos‹ weiß man, dass die Mutter Mutter und der Vater Vater ist; auf Bildern von Unbekannten muss die Funktion der Einzelnen deutlich symbolisiert sein. Ob Mutter, Vater oder Verlobter, die Fotografie hat sie als solche darzustellen.«86
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