Worum geht es in der Diplomarbeit?
In dieser Einleitung fassen wir die wesentlichen Säulen dieser Arbeit zusammen: Seitdem sich mit Hilfe der Fotografie die Möglichkeit erschloss, täuschend ähnliche und relativ billige Porträts, die für das mittlere und kleinere Bürgertum erschwinglich waren, setzte sich etwa ab Mitte des vorigen Jahrhunderts sehr schnell die massenhafte Verbreitung des neuen Mediums durch.
Das Bürgertum mit seinem Bedürfnis nach Reputation und Aufwertung, machte die frühe Atelierfotografie zu einem einträglichen Geschäft und somit zu einem neuen Gewerbezweig, zumal der noch unhandliche Apparat nur unter Mühen außerhalb des Ateliers benutzt werden konnte. Zugleich aber spiegelten sich in der Fotografie, wie kaum in einem anderen Medium, die jeweiligen Normen‑ und Wertesysteme, Schönheits‑ und Geschmacksempfindungen von Bürgertum und Gesellschaft wider. Freilich ist das heute ‑ etwa 180 Jahre später ‑ nicht anders geworden.
Die Fotografie hat sich längst in allen Bereichen durchgesetzt und ist damit zu einer Alltagserscheinung geworden, zum festen Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens, der kaum mehr Beachtung findet. Dennoch liegt die nicht zu unterschätzende politische Bedeutung der Fotografie gerade darin, dass sie von allen gesellschaftlichen Schichten gleichermaßen akzeptiert wird. Keine Berichterstattung, Zeitung, Illustrierte und kein TV-Sender käme ohne die Produktion fotografischer Erzeugnisse mehr aus: neunzig Prozent aller wahrgenommenen Bilder sind heute fotografischen Ursprungs; und die Möglichkeit des Individuums, mit Hilfe des Mediums seine Gefühle zu manifestieren, sich gleichsam künstlerisch zu betätigen, hat zu einer ungeheuren Popularität der Bilderzeugung und ständig wachsenden Anzahl von ‚Freizeitfotografen‘ geführt. Wenngleich die Einflussmöglichkeiten des einzelnen Individuums auf die es umgebende gesellschaftliche Realität sehr gering geworden sind, bietet die fotografische Praxis in gewissen Grenzen doch eine Stabilisierung der Integrität und Individualität.
Im fotografischen Akt erhalten die wahrgenommenen Objekte eine fundamentale Bedeutsamkeit und Aufwertung, werden sie doch für würdig befunden, fotografiert, festgehalten, konserviert, vorgezeigt und in den kommunikativen Gebrauch, der das Stumme in den Bildern als Erinnerung wieder aufleben lässt, zurückgeführt zu werden.1
Auch wenn es den Anschein hat, dass die Objekte der fotografischen Praxis ‑ insbesondere die des Gelegenheitsfotografen ‑ einer zufälligen und willkürlichen Auswahl unterliegen, handelt es sich bei den Elementen dieser Praxis stets um Ausdrucksformen,
»die an einem System expliziter und kodifizierter Normen«2
teilnehmen. Diese Normen sind etwa vergleichbar mit dem Gegensatz zwischen Fotografierbarem und Nicht‑Fotografierbarem und sind überdies untrennbar mit einem System implizierter Werte verknüpft.
Damit ist die Fotografie nach wie vor ein spezifisches Ausdrucksmittel der gesellschaftlichen Realität auch dann, wenn sich einige Kunstfotografen darum bemühen, die fotografische Praxis von ihren gesellschaftlichen Funktionen ‑ die im Erfassen und Sammeln von als wichtig kategorisierten »Erinnerungen« an Gegenstände, Personen oder Ereignisse zum Ausdruck gelangen ‑ zu lösen.
Aber namentlich in den Händen derer, die im gesamtgesellschaftlichen System entscheidende Machtpositionen ausfüllen, ist die Fotografie zu einem bedeutungsvollen Instrument geworden. Gerade die Fähigkeit des fotografischen Apparates, die äußere Wirklichkeit genau wiederzugeben, seine Fähigkeit, die Abbildung des sozialen Lebens im Blickwinkel dokumentarischen Charakters erscheinen zu lassen, macht ihn andererseits, weit mehr als andere Reproduktionsmittel, dazu geeignet,
»die Wünsche und Bedürfnisse der herrschenden Klassen zum Ausdruck zu bringen und das soziale Geschehen aus ihrer Sicht zu interpretieren.«3
In der Werbe‑, Mode‑ und Pressefotografie werden diese Intentionen am auffälligsten markiert.
Somit ist die Fotografie nichts weniger als objektiv. Das scheinbar unbestechliche Objektiv gestattet allemal eine subjektive Wiedergabe der Wirklichkeit, zum einen, weil der Inhalt eines Fotos abhängt von der Art und Weise, wie der Fotograf das Ereignis interpretiert, zum anderen, weil er ‑ wie zum Beispiel in der Werbefotografie ‑ den Verwendungsinteressen seines Auftraggebers Folge leisten muss.
Demnach konstituiert sich im jeweiligen Gebrauch, der von der Fotografie gemacht wird, eine soziale Bedeutung, und in der vorliegenden Arbeit möchte ich mich insbesondere mit drei der mir als wesentlich erscheinenden Gebrauchsweisen auseinandersetzen: mit der frühen für das Bürgertum des 19. Jh. so wichtigen Porträtfotografie, der Amateurpraxis und schließlich der Werbefotografie. Darüber hinaus beschreibe ich einige Aspekte der subjektiven Wahrnehmung wie sie etwa von Castel, Benjamin und Kracauer vertreten werden. Vorangestellt habe ich eine kurze Zusammenfassung der Auseinandersetzungen, die um die Fotografie im neunzehnten Jahrhundert geführt wurden und die ‑ wenn es um den Kunstanspruch geht ‑ auch heute noch unvermindert anhalten.
Im letzten Abschnitt Arbeit, die inzwischen fast 40 Jahre zurückliegt, werden einige kritische Aspekte des Mediums behandelt und die Positionen von Baudelaire, Benjamin, Sontag und Ullmann herausgearbeitet.
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