Das Ringen um die gesellschaftliche Anerkennung
Ob die Fotografie eine Kunst sei, ist so alt wie die Fotografie selbst. Da die Fotografie entstanden ist aus dem Zusammenwirken von neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und dem Bedürfnis, neue Reproduktionstechniken zu entwickeln, entzündete sich die Auseinandersetzungen besonders um die Frage, ob der fotografische Apparat nur ein technisches Instrument sei, mit dessen Hilfe mechanisch die objektiven Erscheinungsformen wiedergegeben würden oder ob gar individuelle künstlerische Empfindungen und Ausdrucksformen entfaltet und ausgedrückt werden könnten. Diese Auseinandersetzungen wurden bevorzugt in Zeitungsartikeln zur Zeit der Erfindung der Fotografie (1839) ausgetragen. Der Leipziger Stadtanzeiger schrieb 1841 unter der Überschrift ›Des Teufels Künste‹:
»Flüchtige Spiegelbilder festhalten zu wollen, dies ist nicht bloß ein Ding der Unmöglichkeit, wie es sich nach gründlicher deutscher Untersuchung herausgestellt hat, sondern schon der Wunsch, dies zu wollen, ist eine Gotteslästerung. Der Mensch ist nach dem Ebenbild Gottes geschaffen und Gottes Bild kann durch keine menschliche Maschine festgehalten werden. Höchstens der göttliche Künstler darf, begeistert von himmlischer Eingebung, es wagen, die gottmenschlichen Züge, im Augenblick höchster Weihe, auf den höheren Befehl seines Genius ohne jede Maschinenhilfe wiederzugeben.«4
Diese klerikal‑konservative Verurteilung der Fotografie als ›Teufelswerk‹ stellt jedoch in den sich anschließenden theoretischen Auseinandersetzungen eher eine Ausnahme dar. Gegenüber den sozialen und naturwissenschaftlichen Neuerungen hat sich die Kirche ohnehin immer äußerst ablehnend, ja feindselig verhalten.
In dem Maße, wie sich die soziale und wirtschaftliche Struktur der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts verändert, ändert sich auch das Bewusstsein und damit die Vorstellung des bürgerlichen Menschen von der Beziehung zu ihr. Eine neue Bewertung der Natur setzte sich langsam durch, gefolgt von einer dem Wesen der Fotografie entsprechenden Wendung zum gegenständlichen. Die Dinge so wiederzugeben wie sie sind, wurde zum Leitbild einer neuen Kunstauffassung. Die Art des fotografischen Verfahrens schien damit diesem Leitbild sehr entgegenzukommen.
Der Anspruch, eine wirklichkeitsgetreue Wiedergabe der Natur zu erreichen, wurde besonders beeinflusst von der zu jener Zeit vorherrschenden positivistischen Denkrichtung.
»Das immer einseitigere Interesse an der materiellen Außenwelt und die zunehmende Unwirklichkeit des Geistigen hatten für die Künstler zur Folge, dass sie ihre Aufgabe immer stärker darin sahen, die Außenwelt zur Darstellung zu bringen. Das Kriterium der Genauigkeit … fand damit Eingang in die Beurteilung von Werken der bildenden Kunst.«5
Da die vom Künstler der Natur gegenüber geforderte Objektivität mit Hilfe der Fotografie sich ‑ wie es schien ‑ ohne weiteres verwirklichen ließ, wurde im Verlaufe der Auseinandersetzungen somit die Fotografie von ihren Befürwortern allgemein als neue Kunstform angesehen.
War bis zum Zeitpunkt der Erfindung der Fotografie zunächst der Kunstbegriff definiert als konzentriertes Interesse, das »unnütze« und »dumme« Details wegzulassen habe,6 so lebte nun die Detailfrage neu auf wurde gleichsam zu einem neuen Kunstkriterium. Jules Janin schrieb 1839:
»Niemals hat die Zeichenkunst der großen Meister eine solche Zeichnung hervorgebracht. Wenn die Verteilung der Massen bewunderungswürdig erscheint, so sind die Details unzählbar … Das Wunderwerk tut seine Arbeit im Augenblick, so zügig wie der Gedanke, so schnell wie der Sonnenstrahl, der das dürre Bergland oder die kaum erschlossene Blüte trifft. Es gibt in der Bibel die schöne Stelle: ›Gott sprach: Es werde Licht, und es ward Licht‹. Jetzt kann man den Türmen von Notre‑Dame befehlen: ›Werdet Bild!‹ und die Türme gehorchen.«7
Von einigen Bewunderern des neuen Mediums wurde der fotografische Apparat sogar mit dem Pinsel und der Palette des Malers verglichen. Unter der Überschrift »Der Stift der Natur« schrieb Henry Fox Talbot 1844:
»Das Instrument registriert, was auch immer es sieht, und sicher würde es einen Kamin oder einen Kaminfeger mit der gleichen Unparteilichkeit wie den Apoll von Belvedere aufzeichnen.«8
Ebenso bemerkenswert sind die programmatischen Sätze eines Antoine Wiertz aus dem Jahre 1855. Wiertz, den Benjamin einen »ungeschlachten Ideenmaler«9 nennt, verleiht in pathetischen Wendungen seiner Überzeugung Ausdruck, dass die Fotografie die Malerei ablösen wird. In ihr sieht er gleichsam eine epochale Offenbarung:
»Ehe noch ein Jahrhundert verstrichen ist, wird diese Maschine der Pinsel, die Palette, die Farben, die Geschicklichkeit, die Erfahrung, die Geduld, die Behendigkeit, die Treffsicherheit, das Auge, der Pinselstrich, der Farbauftrag, die Lasur, der Kunstbegriff, das Vorbild, die Vollendung, die Ausführung sein.
Ehe noch ein Jahrhundert um ist, wird es keine Maler‑Maurer mehr geben, nur noch Architekten: Maler im wahren Sinne des Wortes. Glaube man nicht, dass der Daguerreotyp die Kunst töte! Nein, er tötet das Werk, das die Ausdauer hervorbringt, und verherrlicht die Arbeit des Geistes. Wenn das Daguerreotyp, dieses Riesenkind, herangewachsen sein wird, wenn all seine Kunst und Stärke sich entfaltet haben wird, dann wird der Genius der Kunst es plötzlich mit der Hand am Gelenk packen und laut rufen: Hierher! Mir gehörst Du jetzt! Wir werden zusammen arbeiten.«10
Die Auseinandersetzungen um den Kunstanspruch in der Fotografie stehen, wie Gisèle Freund nachweist, in enger Beziehung mit der durch die Revolution von 1848 ausgelösten Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Da das soziale Leben mehr in den Mittelpunkt der Darstellung trat ‑ übrigens besonders in der Grafik und Malerei ‑ blieb dies nicht ohne Einfluss auf die künstlerische Gestaltung.
Eine neue Kunstrichtung entstand, die den Namen Realismus erhielt.11 Ihr führender Vertreter war der Maler Gustave Courbet. Er war es auch, der den Terminus »Realisme« zum ersten Mal 1855 als gattungsspezifischen Begriff für eine Richtung in der Malerei programmatisch verwendete. Im Gegensatz zum konservativen, traditionellen Klassizismus, der in der Hauptsache die Würde und Reputation des gehobenen Bürgertums zum Gegenstand hatte, galt es nun, Bauern, arbeitende Menschen ‑ Männer und Frauen ‑ in ihrer Alltags‑ und Arbeitssituation darzustellen, sie so wiederzugeben, wie sie »wirklich waren«. In der Vergangenheit wurden arbeitende Menschen aus den unteren Klassen bestenfalls als Statisten für ein anderes Thema gebraucht. Stets wurde ihnen eher nebensächliche Rolle zugewiesen.12
»Der Realismus verstand sich als Gegner des klassizistischen und des romantischen Idealismus, die beide gegenwartsfremd handelten, indem sie die Betrachter in die Reiche der Poesie, der Phantasie, des Traums und der Historie entführten.«13
Somit war der Realismus im Sinne des Programms von Courbet definiert als eine Richtung in der Malerei, die sich zumindest partiell der Probleme der Gegenwart annahm und ihr gegenüber ein klares soziales Engagement zum Ausdruck brachte.
Gisèle Freund zieht zwischen den Darstellungsmöglichkeiten der realistischen Malerei und der Fotografie die Verbindungslinie. In der ästhetischen Konzeption der Realisten, so Freund, werde die Natur gleichsam identisch mit ihrer optischen Wirklichkeit. Hierin liege auch die Möglichkeit für die Fotografie. Die Wirklichkeit der Natur sei auch für den Fotografen identisch mit der optischen Bildwirklichkeit. Für ihn sei die sichtbare Umwelt sein einziges Betätigungsfeld.
»Nur das, was er optisch vor sich sieht, kann er auf die Platte bringen. Wohl besteht seine Aufgabe darin, das Motiv zu bestimmen, Licht‑ und Schattenverhältnisse bestenfalls zu arrangieren, aber damit ist seine Arbeit schon beendet; sie ist vollendet, bevor noch der Apparat in Wirksamkeit treten kann.«14
Immerhin war es mit der neuen Technik der Fotografie möglich, bisher unbeachtete Alltäglichkeiten der sichtbaren Umwelt bedeutungsvoll zu machen.
»Die Kamera ist mein Werkzeug. Mit ihrer Hilfe mach ich alles um mich herum sinnvoll,«15
schrieb Andre Kertesz.
Bei den zähen Auseinandersetzungen lehnten die Realisten mit aller Entschiedenheit ab, die Fotografie als künstlerisches Gestaltungsmittel anzusehen. Wenngleich die Darstellungsmöglichkeiten des fotografischen Apparates dem theoretischen Programm der Realisten sehr nahe kamen, wurde dieser dennoch als untaugliches Werkzeug abgelehnt. Kunst war für sie ein Produkt des Geistes und konnte mit einer Maschine nicht hergestellt werden. Gisèle Freund zitiert den Schriftsteller Jules Champfleury, der sich selbst als Realist bezeichnete:
»Was ich sehe, geht in meinen Kopf ein, verdichtet sich in meiner Feder und wird, was ich gesehen habe, Der Mensch ist keine Maschine und kann die Gegenstände nicht maschinell wiedergeben. Der Dichter wählt, gruppiert, verteilt; gibt sich das Daguerreotyp solche Mühe?«16
Die Auseinandersetzungen um Wert und Einfluss der Fotografie wurden parallel zu den Debatten um Realismus und Naturalismus geführt.
Von der ›offiziellen‹ Kunstkritik, die sich aus den konservativen und traditionalistischen bürgerlichen Kreisen rekrutierte, ist in den Auseinandersetzungen gleichermaßen der Realismus beziehungsweise der sich in ihm ausdrückende Naturalismus heftig bekämpft worden. Für das aufsteigende, von seinen Würden und Pflichten überzeugte Bürgertum, war der Klassizismus
»in seiner glatten Form, seiner Konkretheit, seinen genauen Umrissen und Details«17
maßgebend, dessen führender Repräsentant Jean‑Auguste Dominique Ingres (1780‑1867) war. Der moderne Naturalismus wurde von ihm ebenso abgelehnt wie die Fotografie. Ingres sah in der Fotografie ausschließlich ein technisches Ausdrucksmittel, das mit der Kunst nichts gemein habe. Sie war für ihn Verkörperung eines Fortschritts, der Industrie und Kunst miteinander vermischen wollte. Aber ebenso lehnte er auch den Realismus der Naturalisten ab, der für ihn einen verderbnisbringenden Einfluss auf die Malerei ausübte.18
»Man (wollte) es mit maßvollen, mustergültigen Kunstformen zu tun haben, mit normalen, für jedermann verständlichen Gefühlen und Leidenschaften, mit einer Weltanschauung des Gleichgewichts, der Ordnung und des Mittelmaßes.«19
So sind denn auch die Zeichnungen und Gemälde von Ingres geprägt von kühler und nüchterner Komposition, von strengen Linien sowie klaren und übersichtlichen Details.
Die Heftigkeit, mit der die Auseinandersetzungen um die Fotografie geführt wurden, ist kennzeichnend für die Widersprüchlichkeit jener Zeit, die sich über einen alle Stilrichtungen umfassenden Kunstbegriff nicht einigen konnte.
Für den romantischen Maler Delacroix galt die Fotografie zwar als wertvolles Hilfsmittel, das die Lücken des Zeichenunterrichts schließen könne, sie dürfe aber andererseits nur als Übersetzer angesehen werden, de die Menschen tiefer in die Geheimnisse der Natur einführen könne. Trotz ihrer erstaunlichen Fähigkeit, Realität darzustellen, sei die Fotografie nur ein Spiegelbild der Wirklichkeit, nur eine Kopie. In der Malerei hingegen sei es der Geist, der zum Geiste spreche, nicht die Wissenschaft zur Wissenschaft. Mit Hilfe des fotografischen Apparates werde jedoch der Künstler zu einer Maschine, die von einer anderen Maschine geführt werde. Die Fotografie wurde von Delacroix als Kunstwerk abgelehnt, da es für ihn nicht auf äußere Ähnlichkeit, sondern auf das den Bildnismaler ausmachende Charakteristische und Eigentümliche ankam. Der mechanische Apparat war für ihn außerstande, das eigentliche Wesen der Physiognomie, den Ausdruck des Gesichts zu erfassen. Er bleibe bei der äußeren Wiedergabe stehen und könne »den Geist« des Menschen oder des Dinges nicht wiedergeben.20
Entstanden als Ergebnis aus der Kombination naturwissenschaftlicher Erkenntnisse (chemischer, optischer und mechanischer Art) und künstlerischer Zielsetzung im Sinne einer naturalistisch‑positivistischen Sehweise in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ist sie Fotografie notwendig als bildnerische Konkurrenz zur realistischen und naturalistischen Malerei aufgefasst worden. Nicht zuletzt deshalb, vermerkt J.A. Schmoll Gen. Eisenwerth, seien die Auseinandersetzungen um den Kunstanspruch der Fotografie ab etwa 1840 in den französischen Zeitschriften und Büchern mit solcher Heftigkeit geführt worden.21
»Das Protestgeschrei, das von vielen Künstlern der Zeit gegen die Fotografie erhoben wurde, hatte aber zum Teil ganz materielle Hintergründe. Die Fotografie hatte in erstaunlich kurzer Zeit das Gebiet des Porträts erobert. Sie war nicht nur eine vernichtende Konkurrenz der Graveure und der Miniaturmaler geworden, sondern sie wurde auch eine gefährliche Konkurrenz für den Porträtmaler, und das zu einer Zeit, in der die Porträtmode fast in allen bürgerlichen Kreisen kultiviert wurde.«22
So war es nicht weiter verwunderlich, dass ein großer Teil der Künstlerschaft ihre wirtschaftliche Existenz bedroht sah und die Fotografie deshalb von diesem heftig bekämpft wurde. Die von Jules Janin 1839 und Talbot 1844 getroffenen Feststellungen hätten, so Kemp, in ein umfassenderes Verständnis des Mediums Fotografie und seiner Funktion einmünden sollen. Statt dessen habe man sich die traditionalistisch untermauerte fotografische Position eines Delacroix zu eigen gemacht. Die Gründe dafür sieht Kemp in dem Umstand, dass die Fotografie und ihre Vertreter Parvenüs waren, die den gleichen Kampf um soziale Anerkennung auszufechten hatten, wie die Bildkünste der Malerei und der Bildhauerei im 14. bis 16. Jahrhundert. Auch diese hätten, was Theorie, Inhalt und Habitus anbelangt, die bereits gesellschaftlich legitimierten Künste zum Vorbild genommen.
Ebenso haben sich die Fotografen des 19. Jahrhunderts an den Malern und Bildhauern orientiert, die bereits eine enorme gesellschaftliche Anerkennung und Aufmerksamkeit genossen.
»Sie suchten ihre Themen, ihren stilistischen Duktus und ihre Theorie dem Vorbild der Kunst anzugleichen. Und wurden von dieser so wenig geachtet, wie seinerzeit die Maler und Bildhauer von vielen gelehrten Männern.«23
Das Sicherheitsbedürfnis der damaligen Fotografen habe in den Auseinandersetzungen verständlicherweise dazu geführt, dass nicht die gerade aktuellen und umstrittenen Positionen, sondern reputierliche Mittelwerte angestrebt wurden.24
Schaffernicht führt das »Übel der Fehleinschätzung« der Fotografie auf den in jener Zeit ihr fälschlich zugewiesenen Konkurrenzcharakter zur Malerei zurück. Diese Konfrontation habe nicht, so Schaffernicht, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Reflektion des zeitgenössischen Kunstbegriffs und damit zu einer notwendigen Umorientierung in der Auffassung über Sinn und Funktion der Malerei und Graphik geführt. Angesichts der mit dem fotografischen Verfahren neuentstandenen Fähigkeiten und Möglichkeiten, einer Anzahl traditioneller Aufgaben der Kunst bei weitem gerechter zu werden als mit dieser, hätte sich, schreibt Schaffernicht, eine Umorientierung als historisch notwendig erwiesen. Statt dessen habe man sich am Für und Wider des fotografischen Apparates zerstritten und ihn als die künstlerische Werte zersetzende Gefahr verdammt.25
Kracauer fasst diese Auseinandersetzungen zusammen, indem er darauf hinweist, dass beide Seiten, Gegner und Befürworter, sich von einem naiven Realismus irreführen ließen, der ihren Anschauungen zugrunde lag:
»So gelang es ihnen nicht, Art und Grad der schöpferischen Leistung zu würdigen, die in fotografische Bilder eingehen mag. Die einen wie die anderen waren durch die ihnen gemeinsamen Voraussetzungen daran gehindert, in das Wesen eines Mediums einzudringen, das weder Nachahmung noch Kunst im traditionellen Sinne ist. Aber wie schal diese alten Vorstellungen auch geworden sind ‑ die zwei gegensätzlichen Tendenzen, aus denen sie einst ihre Kraft schöpften, haben sich nach wie vor am Leben erhalten.«26
- Weiter mit —> Die frühe Portraitfotografie
- Zurück zu —-> Einleitung